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„Bedenke, wenn wir geschieden …“
Eine über die gewöhnliche Aktenüberlieferung hinausgehende Dokumentation findet sich in einem Scheidungsverfahren aus dem Jahr 1867/68. Parallel zum Scheidungsprozess führte das junge, erst seit einem halben Jahr verheiratete Ehepaar einen intensiven Briefverkehr. Die Briefe wurden als Beweismittel eingebracht und liegen den Prozessakten bei. Vor allem der Ehemann war an einer Aussöhnung interessiert und reflektierte in einem seiner Briefe über das Leben nach einer möglichen Scheidung von Tisch und Bett:
Bedenke, wenn wir geschieden, sind wir alle zwei für dieses Leben tot, heirathen dürfen wir nicht mehr und so in der wilden Ehe zu leben ist grausam [...]
Von „zeitweiligen“ und „lebenslänglichen“ Scheidungen
Die Scheidung von Tisch und Bett wird für so lange bewilligt, bis die Klägerin/der Kläger ohne Gefahr für ihr/sein zeitliches und ewiges Heil die ehliche Gemeinschaft mit ihrem Gatten/seiner Gattin erneuern kann.
Diese Formulierung entstammt einem Scheidungsurteil, wie es in den 1860er-Jahren in zahlreichen Fällen vom Wiener fürsterzbischöflichen Ehegericht ausgesprochen wurde. Darin gewährte das Ehegericht den Eheleuten eine zeitlich befristete Scheidung von Tisch und Bett und machte die Dauer der Trennung davon abhängig, wie lange eine Gefahr für das dies- und jenseitige „Heil“ der klagenden Partei besteht. Von wem diese Gefahr ausging, darüber gibt der Auszug aus dem Urteil keine Auskunft. In den allermeisten Fällen ging die Gefahr vom Ehemann, seiner Gewaltbereitschaft und/oder seiner Alkohol- bzw. Spielsucht aus.
Während Scheidungen von Tisch und Bett zwischen 1783 und 1856 – als in Wien und Teilen der Habsburger Monarchie staatliche Gerichte für Ehestreitigkeiten zuständig waren – stets unbefristet ausgesprochen bzw. bewilligt wurden, erlaubte das fürsterbischöfliche Ehegericht in den 1860er-Jahren zumeist nur „zeitweilige“ Scheidungen von Tisch und Bett und setzte auf eine mögliche Versöhnung und damit Wiedervereinigung der Eheleute. Nur in wenigen Fällen (meist aufgrund eines bewiesenen oder eingestandenen Ehebruchs) gewährten die Räte eine „lebenslängliche Scheidung von Tisch und Bett“. Mit dieser restriktiven Urteilspraxis schlossen die Räte an die Rechtsprechung der Kirchengerichte vor 1783 an.
Scheidungszahlen in Wien zwischen 1857 und 1865
Karl Dworzak verfasste 1867 einen Erfahrungsbericht über seine langjährige Tätigkeit als Rat des fürsterzbischöflichen Ehegerichts in Wien. Von besonderem Interesse sind dabei seine statistischen Angaben zu den Wiener Scheidungszahlen. In den ersten acht Jahren der Zuständigkeit des kirchlichen Ehegerichts zählt Dworzak 2.100 Scheidungsklagen. Interessant ist, dass er in der Ausdifferenzierung der Urteile keine Unterteilung zwischen lebenslänglichen und befristeten Scheidungen vornimmt:
Vom 1. Jänner 1857 bis gegen das Ende des Jahres 1865 wurden über 2.100 Klagen auf Scheidung von Tisch und Bett bei dem f[ürst]e[rzbischöflichen] Ehegericht eingebracht. Davon wurden bei 1.760 durch Haupturtheil, 230 durch Aussöhnung der Gegner, 122 durch Abweisung ohne Untersuchung, 5 durch Ableben Eines der Gegner während der Verhandlung erledigt. Aus den durch Urtheil erledigten Scheidungssachen wurden im Durchschnitte bei je hundert Urtheilen 66 Scheidungsgesuche bewilligt, 34 abgewiesen. Von 100 bewilligten Scheidungen wurden 58 aus alleinigem Verschulden des Gatten, 24 aus alleinigem Verschulden der Gattin, 18 aus beiderseitigem Verschulden bewilligt. Als Scheidungsgründe erscheinen bei hundert bewilligten Scheidungen siebzehnmal der Gatte, neunmal die Gattin des Ehebruches schuldig; in achtundsechzig Fällen erscheint Mißhandlung oder gefährliche Bedrohung, in zweiundsiebzig empfindliche Kränkungen, in sechs Fällen böswillige Verlassung, in dreizehn Fällen ansteckende Krankheiten, in neun Fällen Kerkerstrafe, in sechzehn Fällen Verschwendung, in etwa dreihundert Urtheilen einmal Verführung zu Lastern als Scheidungsgründe; selbstverständlich erscheinen in den meisten Urtheilen mehrere Scheidungsgründe nebeneinander; in einem einzigen Falle war ein von einem Ehemanne an seiner Gattin mit Erfolg gemachter und mit mehrjährigem Kerker bestrafter Vergiftungsversuch die Ursache der Scheidung. Erwähnenswert scheint noch, daß aus hundert Ehepaaren, welche wegen Scheidung vor dem Ehegerichte standen, 35 bis 40 Perzent in kinderloser Ehe lebten. Auf 100 Urtheile entfallen 28 Appellationen; aus 100 appellirten Urtheilen wurden 8 in den höheren Instanzen aufgehoben oder theilweise abgeändert. Karl Dworzak: Aus den Erfahrungen eines Untersuchungs-Richters in Ehestreitsachen, Wien 1867, S. 166f.
Nota bene
In den Scheidungsakten des fürsterzbischöflichen Ehegerichts Wien aus dem Jahr 1867 taucht die Abkürzung „N.B.“ (= Nota bene) wieder auf, die ich in den Gerichtsquellen des Wiener Magistratsichen Zivilgerichts zwischen 1783 und 1850 vermisst habe. Vermisst deshalb, da die zumeist an den linken Rand einer Seite geschriebenen Bemerkungen einen (oft einzigartigen) Einblick in die Wahrnehmung oder das Geschehen abseits des eigentlichen Verwaltungsakts geben.
Karl Dworzak, der für das Ehescheidungsverfahren zwischen August und Anna Dirnböck zuständige Referent des Kirchengerichts, fügte seinem im Dezember 1867 verfassten Gutachten beispielsweise folgende Bemerkung bei. Darin kommt seine persönliche Einschätzung der beklagten Ehefrau klar zum Ausdruck:
N.B. Beklagte vollkommene Comödiantin, Declamatorin [= Redekünstlerin]
Aus Fehlern lernt man ja bekanntlich…
Im Dezember 1809 ließen sich Johann und Rosa Kroy einverständlich von Tisch und Bett scheiden. Beide waren noch recht jung: Johann Kroy war zum Zeitpunkt der Trennung 35 Jahre alt und Ingrossist bei der k. k. Hofkriegsbuchhaltung. Rosa Kroy, geborene Haan, war neun Jahre jünger. Beide lebten in der Josefstadt. Aus der Ehe war eine Tochter hervorgegangen.
Laut dem zwischen beiden Eheleuten vereinbarten Scheidungsvertrag versprachen sich „beide Theile nach vorgenommener Trennung von Tisch und Bett, niemandem die die gegenwärtige Ehescheidung veranlassenden Gründe mitzutheillen und einander bei allen Gelegenheiten mit wechselseitiger Achtung zu behandeln“.
Was die Scheidungsfolgen anbelangt, kann davon ausgegangen werden, dass sich die Ehefrau in einer starken Position befand, da der ihr zugesprochene Unterhalt den üblicherweise der Ehefrau zustehenden Anteil an den Einkünften des Ehemannes überstieg. Rosa Kroy wurde nämlich nicht – wie üblich – nur ein Drittel zugesprochen, sie hatte einen Anspruch auf zwei Fünftel der Einkünfte ihres geschiedenen Ehemanns zuzüglich der Alimentationszahlung für die Tochter.
Konkret verdiente Johann Kroy als Beamter 700 Gulden pro Jahr. Aus Kapitalgeschäften bezog er zusätzlich jährlich 750 Gulden an Zinsen. Er entschloss sich, so lautete die Regelung im Scheidungsvertrag, seiner geschiedenen Ehefrau einen Unterhalt von jährlich 800 Gulden zu zahlen. 600 Gulden waren für Rosa Kroy vorgesehen, die restlichen 200 Gulden für die Verpflegung und Erziehung der Tochter. Rosa Kroy musste die Wohnung räumen. Für den Fall, dass Johann Kroy in Zukunft geringere Einkünfte beziehen sollte, sollte der Unterhalt im selben Verhältnis reduziert werden. Sollte sein Verdienst ansteigen, stand Rosa Kroy neben den versprochenen 800 Gulden ein Viertel der Besoldungserhöhung zu.
Nach der Scheidung von Tisch und Bett heiratete Johann Kroy 1825 erneut. Er war in der Zwischenzeit beruflich aufgestiegen: Im Heiratsvertrag vom September 1825 wird er als k. k. Rechnungsrat bezeichnet. Verglichen mit den Bezügen vor 16 Jahren, bezog er nun auch beinahe die doppelte Besoldung. Rosa Kroy war vermutlich verstorben. Die Recherche nach ihrem Sterbedatum blieb bislang erfolglos.
Wohl um sich im Fall eines erneuten unglücklichen Verlaufs der Ehe Verhandlungen über einen etwaigen Unterhalt und dessen Höhe zu ersparen, traf Johann Kroy im Vorfeld der zweiten Eheschließung diesbezügliche Vorkehrungen. Für den Fall einer Scheidung von Tisch und Bett sollte seine zweite Ehefrau sich mit einem weitaus geringeren Unterhalt zufriedengeben. Laut Heiratsvertrag sollte ihr nach einer Scheidung lediglich ein Sechstel der Einkünfte Johann Kroys zustehen. Die Passage im Heiratsvertrag lautete wie folgt:
Erkläret die Braut, daß, wenn während des Ehestandes sich Fälle ereignen sollten, welche eine Ehescheidung herbeiführen, sie sich mit einem Sechstel des dermahligen Gehaltes des Bräutigames, welcher in 1.200 Gulden bestehet, begnügen wolle, und daß, wenn dieser Gehalt in der Folge durch irgendeinen Zufall vermindert werden sollte, sie sich auch mit einem Sechstel des verminderten Gehaltes zufriedenstellen, endlich wenn der Bräutigam in der Zukunft pensionnirt werden sollte, sie sich auch mit einem Sechstel der Pension behelfen wolle. WStLA 1.2.3.2.A10 179/1841
Dass in Heiratsverträgen katholischer Brautpaare unterhaltsbezogene oder vermögensrechtliche Vorkehrungen für den Fall einer Scheidung getroffen wurden, war bislang unbekannt. Aus Eheverträgen jüdischer Brautpaare kennt die Historiografie solche vorkehrenden Maßnahmen sehr wohl. Wie an Johann Kroy und seinen zwei Ehen zu sehen ist, lernt man ja bekanntlich aus Fehlern …
Vergeben und Vergessen
Dem bzw. der betrogenen EhepartnerIn stand das Recht, eine Scheidung zu verlangen, nicht zu, wenn dieser bzw. diese dem Ehebrecher bzw. der Ehebrecherin die „zugefügte Beleidigung ausdrücklich und gänzlich verziehen“ habe, so der Jurist Thomas Dolliner.
Um zu beweisen, dass sie ihrem Ehemann den Seitensprung mit einer anderen Frau nicht vergeben und vergessen hatte, schwor Katharina Popp im Jahr 1810 folgenden Eid vor dem Scheidungsgericht, dem Magistrat der Stadt Wien:
Ich Katharina Popp schwöre zu Gott dem Allmächtigen einen reinen, körperlichen, und unverfälschten Eyd ohne einige Gemüthshinterhaltung oder zweydeutigen Verstand, das ist, das ich nicht anders rede, als ich denke, und nicht anders denke, als ich rede, sondern wie ich es mir einstens vor dem strengen und allwissenden Richterstuhl Gottes zu verantworten getraue dahin: Daß ich bey dem Stiftgericht Schotten im März 1808 nach der gefänglichen Einziehung der Juliana Reisinger nebst gänzlichen Vergeben und Vergessen des Vergehens des Geklagten mit dieser Reisinger mich nicht geäussert habe, wieder mit dem Geklagten leben zu wollen. So wahr mir Gott helfe. Katharina Popp