1. Eherecht
2. Verfahrensrecht
3. Dezemberverfassung und Maigesetze
1. EHERECHT
KONKORDAT (1855)
Das Konkordat von 1855 übertrug die Jurisdiktion in Ehesachen neuerlich an die katholische Kirche, womit zwischen 1857 und den 1871 nicht mehr das ABGB, sondern erneut das Eherecht der katholischen Kirche zur Anwendung kam. Das Konkordat verordnete, dass über Ehesachen „nach Vorschrift der heiligen Kirchengesetze und namentlich der Verordnungen von Trient“ (10. Art.) zu entscheiden sei. Detaillierte Bestimmungen über den Zweck der Ehe, über Eheverlöbnisse, über die Gültigkeit und Ungültigkeit von Ehen sowie über die Scheidungen von Tisch und Bett wurden 1856 im „Gesetz über die Ehen der Katholiken im Kaiserthume Oesterreich“ und in der „Anweisung für die geistlichen Gerichte des Kaiserthumes Oesterreich“ erlassen.
2. VERFAHRENSRECHT
Die Richter hatten sich neben dem kanonischen Eherecht zusätzlich an die Bestimmungen der „Anweisung für die geistlichen Gerichte des Kaiserthumes Oesterreich“ zu halten, die als Anhang zum Patent vom 8. Oktober 1856 veröffentlicht worden waren.
Es bestimmte, dass jener Teil, der die Scheidung von Tisch und Bett verlangte, sich vorerst an seinen Pfarrer zu wenden hatte. Die Aufgabe des Pfarrers war es, beide Eheleute vorzuladen und alles zu unternehmen, um die Ehe aufrechtzuhalten. Gelang dem Seelsorger die Versöhnung nicht, sollte er nach einer Pause von mindestens acht Tagen einen weiteren Versuch unternehmen. Nach drei erfolglosen Versuchen hatte er einen Bericht an das Kirchengericht zu erstatten. Darin sollte er beschreiben, inwieweit ihm die Beschwerden als gegründet erschienen. Der dritte Versuch konnte, wenn keine Aussicht auf eine Versöhnung bestand, auch ausgelassen werden. Weigerte sich ein Teil vor dem Pfarrer zu erscheinen, konnte dieser die weltliche Behörde einschalten.
Eheverfahren konnten weiterhin nur durch eine Klage des Ehemannes oder der Ehefrau in Gang gesetzt werden. In der Mehrzahl der Fälle wurde diese schriftlich eingebracht. Lediglich in wenigen Fällen wurde die Klage erst bei einer Tagsatzung mündlich zu Protokoll gegeben. Nur bei Ungültigkeitsverfahren, wo das Bestreitungsrecht nicht den Eheleuten oder einem Teil ausschließlich zustand, hatte das Ehegericht das Recht, eine Untersuchung von Amtswegen einzuleiten. Die Einleitung eines Ex officio-Verfahrens wurde in aller Regel durch die Anzeige eines Dritten (meist des Pfarrers) ausgelöst.
Mit dem Einbringen einer Scheidungsklage hatte die klagende Partei die Möglichkeit, einen abgesonderten Wohnort und einen vorläufigen Unterhalt zu fordern, worüber das Kirchengericht zu entscheiden hatte. Bei einer positiven Entscheidung setzte es das weltliche Gericht über seine Entscheidung in Kenntnis, welches die Bedingungen und die Höhe des Unterhalts auszumessen hatte.
Grundsätzlich unterstanden die Eheleute der bischöflichen Gerichtsbarkeit, in deren Kirchensprengel der Ehemann seinen Wohnsitz hatte. Ausgenommen davon waren zum einen von Tisch und Bett geschiedene Eheleute, zum anderen Ehefrauen, die „böswillig“ von ihrem Ehemann verlassen worden waren. Ihnen war es erlaubt ihre Klage beim Ehegericht einzubringen, in dessen Kirchensprengel sie wohnten. War die Vorladung gerichtlich zugestellt, konnte keine Abänderung hinsichtlich der gerichtlichen Zuständigkeit mehr beantragt werden.
Eheleute, welche die Zuständigkeit infrage stellten oder sich aus anderen Gründen weigerten, vor dem Kirchengericht zu erscheinen, hatten das Recht, ihr Nichterscheinen innerhalb einer bestimmten Frist zu begründen. Beurteilte das Gericht die Begründung als „unstatthaft“ oder versäumte die Partei es, sein Fernbleiben zu rechtfertigen, konnte das Kirchengericht das weltliche Gericht um Amtshilfe ersuchen.
Das Ehegericht bestand aus einem Präses, einem Schriftführer und vier bis sechs Räten, die alle vom Bischof ernannt wurden. Eingelangte Klageschriften wurden vom Präses einem Rat zugeteilt, der als Referent für das jeweilige Verfahren fungierte. Einem weiteren Rat oblag die Aufgabe, die Untersuchung zu führen. Bei großer räumlicher Distanz zwischen Wohnort und dem Sitz des Ehegerichts ernannte das Kirchengericht zumeist den ortsansässigen Pfarrer oder Dechanten als „Untersuchungs=Commissär“.
Die Aufgabe eines Untersuchungskommissärs bestand darin, den Tatbestand zu erheben. In der Voruntersuchung hatte er die Eheleute und allfällige Zeug*innen zu vernehmen. Bei einer Scheidung von Tisch und Bett kam es zusätzlich zur Gegenüberstellung der Eheleute. Im Unterschied zu den Eheverfahren vor den weltlichen Gerichten stand dem Untersuchungskommissär das Recht zu, auch Zeug*innen zu vernehmen, die von keiner der beiden Streitparteien genannt worden waren, von denen er sich aber weitere Aufschlüsse erhoffte. Das Protokoll der Voruntersuchung hatte der Untersuchungskommissär dem Ehegericht vorzulegen. Dieses entschied, ob die Voruntersuchung fortgesetzt, ein Beweisverfahren eingeleitet oder das Urteil gefällt werden konnte.
In Differenz zur Praxis der Kirchengerichte vor 1783 wie auch der weltlichen Gerichte bestimmte die „Anweisung für die geistlichen Gerichte“, dass der Untersuchungskommissär die an die Zeug*innen zu richtenden Fragen zu entwerfen hatte. Bei Scheidungen von Tisch und Bett hatte er die Fragen jedoch mit etwaigen von den Parteien eingereichten Fragen abzustimmen.
TRENNUNGS- UND SCHEIDUNGSGRÜNDE
Eine unbefristete Scheidung sollte das Ehegericht nur bei einem bewiesenen oder eingestandenen Ehebruch aussprechen. Hatte die klagende Partei den Ehebruch gebilligt, gestattet, durch ihr Verschulden herbeigeführt oder sich selbst eines Ehebruchs schuldig gemacht, sollte das Gericht nicht auf Ehebruch erkennen. Das Recht auf eine unbefristete Scheidung verlor die klagende Partei auch dann, wenn sie dem anderen Teil seine Schuld ausdrücklich oder stillschweigend verziehen hatte.
Eine befristete Trennung konnte vom Ehegericht dann ausgesprochen werden, wenn ein Eheteil vom Christentum abtrünnig wurde oder er den anderen zum Abfall vom katholischen Glauben, zu Lastern oder Verbrechen zu verführen suchte. Misshandlungen oder Nachstellungen, welche die Gesundheit und das Leben des anderen Eheteils gefährdeten; empfindliche, durch längere Zeit andauernde Kränkungen sowie ansteckende und langwierige körperliche Krankheiten erlaubten ebenfalls nur eine befristete Scheidung von Tisch und Bett. Das gleiche galt, wenn den Vermögensrechten oder der Ehre des anderen Teils großer Nachteil zugefügt worden war. Wurde ein Teil von dem anderen böswillig verlassen, sollte die zeitweilige Scheidung so lange aufrecht bleiben, bis der andere die Bereitschaft erklärte, die ehelichen Pflichten wieder zu erfüllen.
URTEILE UND BESCHWERDEMÖGLICHKEITEN
Das Ehegericht musste seine Entscheidungen mit absoluter Stimmenmehrheit treffen. Bei einer Stimmengleichheit gab die Stimme des Präses den Ausschlag für bzw. wider das Klagebegehren. Eine Ausnahme davon stellten Ungültigkeitsverfahren dar: Hier war bei Stimmengleichheit stets auf die Gültigkeit der Ehe zu entscheiden. Bei Scheidungsverfahren musste zusätzlich die Verschuldensfrage geklärt und im Urteil genannt werden. War es in den Augen des Gerichts der Fall, dass einem Teil aus moralischen Gründen die Obsorge über das Kind oder die Kinder nicht erteilt werden konnte, musste dies im Urteilstext vermerkt werden. Die Urteile wurden vom Gerichtsdiener an die Parteien zugestellt. Das Ehegericht informierte zudem das zuständige Bezirksgericht und den örtlichen Pfarrer über den Ausgang des Verfahrens.
Fand sich eine Partei durch das Urteil des Kirchengerichts ungerecht behandelt, konnte sie innerhalb einer Frist von zehn Tagen nach Zustellung des Urteils gegen dieses berufen. Im Fall des Wiener fürsterzbischöflichen Ehegerichts fungierte das Ehegericht Prag als zweite und das Ehegericht Salzburg als dritte Instanz. Eine Berufung konnte solange eingebracht werden, bis die Gültigkeit einer Ehe oder die Scheidung von Tisch und Bett durch zwei, die Ungültigkeit der Ehe durch drei gleichlautende Urteile ausgesprochen wurde.
TRENNUNG- UND SCHEIDUNGSFOLGEN
Nach einer ausgesprochenen Trennung oder Scheidung von Tisch und Bett hatte das Ehegericht in Hinblick auf Uneinigkeiten über die Vermögensaufteilung, den Unterhalt und die Obsorge etwaiger Kinder einen Vergleichsversuch zu unternehmen. Waren die Parteien zu keinem Vergleich zu bewegen, waren die Eheleute an das weltliche Gericht zu weisen. Bestanden beide Teile einstimmig darauf, die Scheidungsfolgen vor dem Kirchengericht zu verhandeln, konnte dieses als Schiedsgericht fungieren.
Für die Eheverfahren im Erzherzogtum Österreich unter der Enns fungierten das Metropolitangericht Wien und das Diözesangericht St. Pölten als Ehegerichte.
Im Gegensatz zur weltlichen Gerichtsbarkeit setzte ein Scheidungsverfahren wieder eine klagende Partei voraus. Einvernehmliche Scheidungen waren mit Inkrafttreten der „Anweisung für die geistlichen Gerichte des Kaiserthumes Oesterreich“ nicht mehr möglich. Zudem konnten die katholischen Ehegerichte wieder eine befristete Trennung aussprechen.
Im Metropolitanarchiv Wien konnten leider nur mehr Quellen zu Verfahren des letzten Quartals des Jahres 1867 aufgefunden werden. Das Diözesanarchiv St. Pölten beherbergt dagegen 23 Kartons, gefüllt mit Aktendossiers zu Eheverfahren von 1857–1868 bzw. 1872 sowie zwei Sitzungsprotokollbücher, welche während des genannten Zeitraumes vom Ehegericht St. Pölten geführt worden waren.
Während wir die Gerichtspraxis des Metropolitangerichts Wien nur am Ende seiner Zuständigkeit untersuchen konnten, ermöglichte die dichte Quellenüberlieferung des St. Pöltner Ehegerichts die Analyse der Gerichtspraxis zu Beginn (Jänner 1857 bis Juni 1857) und zum Ende (September bis Dezember 1867) seiner Zuständigkeit.
3. DEZEMBERVERFASSUNG (1867) UND MAIGESETZE (1868)
Das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867 bestimmte, dass alle Bürger vor dem Gesetze gleich sind (Art. 2). Die Ehejuristiktion der römisch-katholischen Kirche stand im Widerspruch zu diesem Grundsatz. Der Reichsrat, das Parlament der cisleithanischen Reichshälfte, verabschiedete drei Gesetze, welche die Bestimmungen des Konkordats einengten oder gänzlich aufhoben. Nachdem Kaiser Franz Joseph I. alle drei Gesetze am 25. Mai 1868 für Cisleithanien in Kraft setzte, werden sie bis heute als Maigesetze bezeichnet.
Das erste Gesetz unterstellte die Ehegerichtsbarkeit über Katholik*innen wieder den Bestimmungen des ABGB von 1811. Die Anweisung für die geistlichen Gerichte wurde außer Kraft gesetzt (Art. 1). Für all jene Personen, die wegen religiöser, staatlich aber nicht anerkannter Ehehindernisse nicht heiraten konnten oder keiner der anerkannten Konfessionen oder Religionen angehörten, wurde die sogenannte Notzivilehe eingeführt. Mittels kaiserlichem Handschreiben wurde das Konkordat am 30. Juli 1870 formell gekündigt. Erst das Gesetz vom 7. Mai 1874 hob das Konkordat „seinem vollen Inhalte nach“ auf.
Andrea Griesebner/Isabella Planer, 2017
Letztes Update, Andrea Griesebner, August 2020