Magistrat Wien

1. Gerichte
2. Quellen
3. Zeitsegmente

1. Gerichte

Als Ehegericht für die Bürger*innen der Stadt Wien fungierte ab 1. November 1783 der Ziviljustizsenats, einer der drei im Zusammenhang mit der Magistratsreform der frühen 1780er-Jahre installierten Abteilungen des Magistrats der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt Wien.  Seine räumliche Zuständigkeit umfasste die Innere Stadt sowie die zwischen Glacis und Linienwall (dem heutigen Gürtel) gelegenen Vorstädte.

Der Ziviljustizsenat tagte bis 1839 im (Alten) Rathaus in der Wipplingerstraße, ab 1839 am Hohen Markt. 1841 wurde der Ziviljustizsenat in Magistratisches Zivilgericht umbenannt.

2. Quellen

Die zwischen 1783 und 1850 verhandelten Scheidungsakten des Wiener Zivilsenats befinden sich heute im Wiener Stadt- und Landesarchiv und sind auf insgesamt 52 Kartons aufgeteilt. Von den Scheidungsverfahren sind, je nachdem, ob es sich um einverständliche oder uneinverständliche Scheidungen handelte, Pfarrzeugnisse, Klageschriften, Protokolle der mündlichen Verhandlungen, Scheidungsvergleiche, Korrespondenzen mit anderen Behörden, Weisartikel sowie Fragstücke, Zeugeneinvernahmen, Urteile samt Beweggründe und teilweise auch von den Parteien eingebrachte Beweismittel überliefert. Die Dichte und der Umfang der Überlieferung nehmen zu, je jünger die Akten sind. Dies gilt auch für die Zusatzverfahren zur Regelung der Scheidungsfolgen.

Der Aufbau und die Zusammensetzung des Aktenbestands lassen darauf schließen, dass zum einen nicht alle während der Verfahren produzierten Schriftstücke archiviert wurden und zum anderen die Aktendossiers später auch „ausgedünnt“ wurden.

Die Anordnung zur Archivierung der Gerichtsakten wird bereits in einer Gerichtsinstruktion von 1785 beschrieben. Nach dem Abschluss der Gerichtsverfahren sollten die eingereichten Schriften, die den Parteien nicht zurückgegeben worden waren, wie auch die Verhandlungsakten „in der Registratur beygelegt“ werden. Auf jedem Akt sollte eine Zahl, welche die rechtliche Materie des Falls kennzeichnete, und eine fortlaufende Nummer vermerkt werden.

Heute befinden sich die Gerichtsakten im Großen und Ganzen in dieser Ordnung. Die zu Aktendossiers zusammengelegten oder zusammengebundenen Schriftstücke liegen in nach Jahreszahlen geordneten Kartons. Der Umfang und die Dichte der Dokumentation der einzelnen Gerichtsprozesse sind sehr unterschiedlich. Ob ein Aktendossier lediglich einen Papierbogen oder viele, mit einer Schnur zu einem Stapel gebundene Schriftstücke enthält, hängt im Wesentlichen davon ab, welche Dokumente im Rahmen des Gerichtsverfahrens überhaupt erstellt und welche davon wiederum archiviert wurden.

Vor allem die älteren, vor den 1830er-Jahren erstellten Aktendossiers wurden „ausgedünnt“, d.h. es wurden in erster Linie nur jene Schriftstücke aufbewahrt, die die gerichtlichen Entscheidungen hinsichtlich der Ehescheidung und ihrer rechtlichen Konsequenzen dokumentieren.

Selbstredend wirkten sich der Verlauf und die Wendungen, die ein Scheidungsverfahren nahm, auf die Art und die Anzahl der produzierten Dokumente aus. Generell lässt sich festhalten, dass von einverständlichen Scheidungen in der Regel das Scheidungsgesuch und das als Voraussetzung für eine Ehescheidung dienende Pfarrzeugnis, in dem der Seelsorger bestätigte, dass er versucht hatte, das Ehepaar zu versöhnen, überliefert sind. Der gerichtliche Bescheid existiert nicht als eigenes Schriftstück, sondern wurde zumeist neben oder über dem Rubrum auf dem Gesuch der einverständlichen Scheidung vermerkt.

Von uneinverständlichen Scheidungsverfahren sind in der Regel die Klage sowie das Pfarrzeugnis und je nachdem ob die Streitparteien sich in einem Vergleich von Tisch und Bett schieden oder durch ein Urteil geschieden wurden, entweder der Bescheid samt dem Vergleich oder das Urteil inklusive den Beweggründen erhalten. Die Aktendossiers der durch ein gerichtliches Urteil entschiedenen Scheidungsprozesse können neben der Scheidungsklage und dem Pfarrzeugnis auch das Protokoll der mündlichen Aussagen, Beweismittel, die Weisartikel, Eidesformeln, ein Aktenverzeichnis, den Aktenauszug, das Votum sowie das Urteil und die dazugehörigen Beweggründe enthalten.

Die besonders aufschlussreichen Protokolle der Tagsatzungen sind nur für das Ende des Untersuchungszeitraums lückenlos überliefert. Dass die Protokolle aber auch im ausgehenden 18. Jahrhundert angefertigt wurden, beweist ein Fragment aus dem Jahr 1787, das Teile der Einrede und der Duplik des Geklagten beinhaltet. Auch aus dem Jahr 1816 und den 1830er-Jahren sind einige wenige Protokolle von gerichtlichen Verhandlungen erhalten.

Beweismittel wie Privatbriefe, ärztliche Gutachten und Zeugnisse von Nachbar*innen oder Dienstgeber*innen fehlen meist. Es liegt die Vermutung nahe, dass diese von den Streitparteien nach Abschluss des Gerichtsprozesses zurückgefordert wurden und aus diesem Grund nicht in den Aktendossiers zu finden sind.

Einige Ehefrauen und Ehemänner (seltener taten dies beide Streitparteien) reichten eine Beschwerde gegen das Urteil des Magistrats ein. In derartigen Fällen liegt das zweitinstanzliche Urteil des NÖ. Appellationsgerichts dem Scheidungsakt bei. Ging das Verfahren in die dritte und letzte Instanz, findet sich auch das Urteil der Obersten Justizstelle im Aktendossier. Ein Stück weit lässt sich so die Arbeit dieser beiden Justizstellen nachvollziehen, deren Quellenbestände beim Brand des Justizpalastes 1927 größtenteils vernichtet worden sind.

3. Zeitsegmente

Ebenso wie in den anderen Untersuchungszeiträumen konnten wir nicht alle Eheverfahren zwischen 1783 und 1850 erheben, sondern mussten zeitliche Schwerpunkte setzen.

Im Detail haben wir den Zeitraum zwischen 1. November 1783 und 30. Juni 1850, in dem der Magistrat der Stadt Wien für Ehestreitigkeiten zuständig war, in fünf Untersuchungsabschnitte unterteilt, die sich ebenfalls an rechtlichen Änderungen orientieren. Aus der fast 70-jährigen Zuständigkeit des Magistrats wurden die Scheidungs- und Scheidungsfolgeverfahren für einen Zeitraum von 25,5 Jahren erhoben.

Wie bereits erwähnt sind die Eheverfahren nicht wie jene vor 1783 in Protokollbüchern überliefert, sondern als Aktendossiers. Ein Aktendossier dokumentiert die gerichtlichen Auseinandersetzungen eines Ehepaars und umfasst in der Regel all jene Dokumente, die im Kontext eines oder mehrerer zusammengehörender Verfahren erstellt wurden. In die Aktendossiers einsortiert wurde außerdem auch der schriftliche Niederschlag von Behördengängen, die nach dem 1. Juli 1850 – als bereits andere Gerichte für Ehesachen zuständig waren – getätigt wurden.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die erhobenen Untersuchungszeiträume zwischen 1783 und 1850, die Anzahl der erhobenen Verfahren und die Anzahl der involvierten Ehepaare.

 

Der erste Untersuchungszeitraum umfasst die ersten zehn Jahre nach Inkrafttreten des Josephinischen Ehepatents und reicht vom 1. November 1783 bis einschließlich 1793. In diesem Zeitabschnitt fand bereits eine wichtige Rechtsänderung statt: Nach dreijährigem Verbot und einem massiven Rückgang der Eheverfahren wurden mit 1. Jänner 1787 uneinverständliche Scheidungen von Tisch und Bett von Rechts wegen wieder gestattet. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der andere Eheteil die Zustimmung zur Scheidung „böswillig“ verweigerte.
Der zweite und dritte Untersuchungsabschnitt umfasst die Jahre 1807 bis 1816 und konzentriert sich auf die praktischen Auswirkungen der eherechtlichen Änderungen und Reformen im Zuge des Inkrafttretens des ABGB von 1811.
Als vierten und fünften Untersuchungszeitraum wurden die Jahre zwischen 1830 und 1832 sowie zwischen 1848 und Juli 1850 gewählt.

Georg Tschannett, 2016
Letztes Update: Andrea Griesebner, Juni 2020

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Zitation: Andrea Griesebner und Georg Tschannett, Magistrat Wien » Einstieg » Datenerhebung » Weltliche Gerichte (1783–1850), in: Webportal. Ehen vor Gericht 3.0, 2024, <http://ehenvorgericht.univie.ac.at/?page_id=10463>. [Zugriffsdatum: 2024-11-21]