1. Bischöfliches Ehegericht St. Pölten
2. Fürsterzbischöfliches Ehegericht Wien
Die Gerichtspraxis der kirchlichen Ehegerichte, welche nach der Rückübertragung der Ehegerichtsbarkeit ab 1857 die Ehegerichtsbarkeit ausübten, untersuchten wir anhand der überlieferten Eheakten des fürsterzbischöflichen Ehegerichts Wien und des bischöflichen Ehegerichts St. Pölten.
Die Scheidungsdossiers wurden vollständig digitalisiert. Als relevant erachtete Schriftstücke wie z.B. Klageschriften, Berichte der Voruntersuchung oder Urteile wurden zur Gänze transkribiert, von anderen Schriftstücken wie etwa Verhörprotokollen längere, von den anderen wie z.B. Ladungen zu den Tagsatzungen kurze Regesten erstellt. Die ca. 4.000 Digitalisate befinden sich im Archiv des Forschungsprojekts.
BISCHÖFLICHES EHEGERICHT ST. PÖLTEN
Die Gerichtspraxis des bischöflichen Ehegerichts St. Pölten lässt sich zum einen über zwei Sitzungsprotokollbücher rekonstruieren, welche den Zeitraum 1857 bis 1863 und 1864 bis 1872 dokumentieren. Zum anderen sind auch die Akten der Eheverfahren überliefert, welche 23 Kartons füllen.
Bei der Erhebung der Eheverfahren des St. Pöltner Ehegerichts setzten wir zwei Zeitsegmente. Das erste Zeitsegment fokussiert mit Jänner bis Juni 1857 die ersten sechs Monate der erneuten Zuständigkeit der Kirchengerichte. Das zweite Zeitsegment nimmt das letzte Quartal des Jahres 1867 in den Blick und ermöglicht einen Vergleich mit der Ehegerichtspraxis des Wiener Ehegerichts.
Im Gegensatz zum Magistrat der Stadt Wien, der die von den Streitparteien eingereichten Beweismittel in den allermeisten Fällen retournierte, finden sich in den Aktendossiers des Ehegerichts St. Pölten vermutlich alle Dokumente, die vom bzw. für das Ehegericht erzeugt worden waren: vom Klageprotokoll über ärztliche Atteste, Protokolle von der Einvernahme von Zeug*innen, gerichtliche Vorladungen, Korrespondenzen mit weltlichen Behörden, bis hin zum Urteil.
Der Scheidungsakt des Ehepaares Anna Maria und Johann Stockinger, das umfangreichste Aktendossier des Jahres 1857, besteht beispielsweise aus teilweise zusammengelegten, teilweise gebundenen Akten mit einem Umfang von 762 Seiten. Wie auch im Fall Stockinger sind die Schriftstücke innerhalb der einzelnen Dossiers nur teilweise chronologisch geordnet.
FÜRSTERZBISCHÖFLICHES EHEGERICHT WIEN
Im Gegensatz zu St. Pölten lässt sich die Gerichtspraxis des fürsterzbischöflichen Ehegerichts Wien nur für das letzte Quartal des Jahres 1867 rekonstruieren, dessen Aktenbestände zwei Kartons füllen. Leider sind – soweit wir in Erfahrung bringen konnten – auch die Sitzungsprotokolle des Ehegerichts nicht mehr erhalten. Trotz alledem können wir auf eine Fülle gut überlieferter Eheverfahren zurückgreifen, die auf über 2.000 Seiten dokumentiert sind.
Die einzelnen zumeist chronologisch sortierten Aktendossiers enthalten in der Regel den pfarramtlichen Bericht, die Klageschrift, die Protokolle über Aussagen der Eheleute und etwaiger Zeug*innen, die Entscheidungen und Begründungen des Ehegerichts sowie Vorladungen, Zustellscheine und die Korrespondenz zwischen dem Ehegericht und weltlichen Behörden.
Da an das fürsterzbischöfliche Ehegericht Wien auch Berufungen anderer Ehegerichte delegiert wurden und es als zweite Instanz fungierte, sind darüber hinaus Aktendossiers erhalten geblieben, die vom Ehegericht Wien im Zuge seiner zweitinstanzlichen Funktion angelegt wurden.
Andrea Griesebner/Georg Tschannett/Isabella Planer, 2017